Die Beratungsstelle bei häuslicher Gewalt Amila in Böblingen verzeichnet auch 2021 mehr Hilferufe. Der Verein will verstärkt ins öffentliche Bewusstsein.
BÖBLINGEN. Am Donnerstag ab 17 Uhr stehen Mädchen und Frauen wieder auf der Straße, genauer gesagt am Sterncenter in Sindelfingen, um deutlich zu machen: Die Gewalt an Frauen muss ein Ende haben. Anlass der Kundgebung vom Frauenverband Courage Böblingen/Sindelfingen ist der alljährliche Internationale Tag gegen Gewalt an Frauen am 25. November. Trotz Pandemie wollen die Engagierten das Thema „Gewalt gegen Frauen“ laut- und bildstark ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rufen.
Seit Jahren mehren sich die Hilferufe von unter Partnerschaftsgewalt leidenden Frauen. Fachberatungsstellen, Polizei oder Frauenhäuser sind ihre Anlaufstationen. Auch dieses Jahr wird dies wieder der Fall sein, da sind sich die Expertinnen von Amila in Böblingen, der Beratungsstelle bei häuslicher Gewalt, sicher. Genauso wie 2020 kommt auch in diesem Jahr die Pandemie erschwerend hinzu. Schon im vergangenen Jahr haben zu Zeiten der Lockdowns eskalierende Partnerschaftskonflikte sprunghaft zugenommen.
Ob im Land nun ein neuerlicher Lockdown verhängt wird oder nicht – für viele Frauen im Kreis ist die Situation ohnehin dramatisch. Der Anstieg der angezeigten Gewalttaten an Frauen bestätigt sich auch in den Zahlen von Amila. „Im Jahr 2020 haben wir erstmalig die 200er-Marke geknackt. 201 Frauen haben sich an uns gewandt. Sie alle leiden vor allem unter physischer oder psychischer Gewalt von Partnern oder Ex-Partnern“, erklärt Nadine Walch-Krüger von der Beratungsstelle. 619 Beratungsgespräche fanden 2020 statt. Das bedeutet, das sich jede Betroffene im Schnitt dreimal Rat und Hilfe holte. 2019 waren es noch 176 Frauen gewesen.
Wir hatten kürzlich zehn Neuanfragen in einer Woche. Das ist eine deutliche Steigerung. Normalerweise verzeichnen wir drei bis vier Neuanfragen pro Woche“, so Walch-Krüger. Den Grund für die Zunahme sieht die Sozialpädagogin in der größer werdenden Frustration vieler Männer während Corona. Die Pandemie habe mehr Beziehungsstress geschaffen, da Paare durch Lockdowns, Homeoffice oder Kurzarbeit enger aufeinander hocken. „Einigen Männern fehlte ein Freizeitventil. Manche Sorgen, zum Beispiel finanzieller Natur, wurden größer“, erzählt Walch-Krüger. Das Konfliktpotenzial steige.
Wenn durch den erzwungenen Rückzug in die eigenen vier Wände Außenkontakte seltener werden, kämen noch weniger Fälle ans Tageslicht. „Viele Frauen verspüren eine Ohnmacht“, weiß Nadine Walch-Krüger und fügt hinzu: „Kinder spielen in solchen Beziehungen eine Schlüsselrolle. Einige holen sich erst Hilfe, wenn die Gewalt auch auf ihre Kinder ausstrahlt.“ Und die Kinder bekämen die Konflikte in der Regel auch mit. Viele seien danach traumatisiert. „Man weiß, dass durch Gewalt traumatisierte Mädchen nicht selten später selbst in solchen Beziehungen landen und traumatisierte Jungs später auch selbst zu Partnerschaftsgewalt neigen können“, erläutert Walch-Krüger.
Dann kommen Hilfeangebote wie Amila oder im Falle von sexualisierter Gewalt deren Schwesterverein Thamar ins Spiel. Betroffene, denen Platzverweise für die Männer nicht mehr weiterhelfen oder die keine private Zuflucht finden können, haben üblicherweise die Möglichkeit, in einem Frauenhaus Schutz zu finden. Im Kreis ist dies allerdings seit 2011 nicht mehr möglich. Damals musste das Frauenhaus schließen. Seit zehn Jahren bemühen sich der Trägerverein „Frauen helfen Frauen“ und der Landkreis um eine geeignete Immobilie, die bezahlbar ist und die Sicherheitsanforderungen der Bewohnerinnen gewährleistet.
Unter Gewalt leidende Frauen werden seither in benachbarte Kreise geschickt, sofern sie dort noch Unterschlupf finden können. Denn auch hier gilt: Der Bedarf ist weit größer als das Angebot – gerade in Zeiten einer Pandemie, in der mehr Frauen betroffen sind, aber auch spezielle Hygiene- und Abstandsregeln gelten. Diese missliche Lage für Frauen im Kreis Böblingen soll sich aber bald ändern. Voraussichtlich 2024 soll auch der Landkreis wieder über ein Frauen- und Kinderschutzhaus verfügen.
Die gerade in die Höhe schnellenden Zulaufzahlen zeigen: Beratungsstellen wie Amila werden gebraucht. Sie benötigen aber mehr Sichtbarkeit, um auf ihr Angebot hinzuweisen. Das hat der Inner Wheel Club Böblingen zum Anlass genommen, Amila finanziell unter die Arme zu greifen. Der Verein hat unter anderem schon die Tafelläden, die Sozialstation oder den Böblinger Hospizverein unterstützt. Nun hat die Präsidentin Reinhilde Weiß-Freisinger Amila in den Fokus genommen. „Wir wollten speziell etwas für Frauen tun. Immerhin sind wir selbst eine Frauenorganisation“, erklärt Weiß-Freisinger. „Mit unserer Spende wollen wir einen Beitrag leisten, eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen“, so die Inner-Wheel-Chefin. Denn obwohl das Amila-Team von Jahr zu Jahr mehr Hilfeanfragen erhält, hat die Präsenz im öffentlichen Bewusstsein Luft nach oben. „Mithilfe der Geldspende können wir weiter investieren. Wir haben neue Flyer und Plakate gestaltet, die in Bussen zu sehen sein werden. Aktuell wird auch die Homepage neu gestaltet“, sagt Monika Becker. Damit sollen gerade auch jene sozialen Gruppen erreicht werden, die nicht von der Existenz der Beratungsstelle wissen. Mit dieser niederschwelligen Ansprache wollen die Mitarbeiterinnen von Amila an Frauen aller sozioökonomischen Schichten signalisieren: Es gibt einen Weg aus der Gewalt.